Um 7:50 Uhr ist unsere Lehrerin am Ende des Ganges aufgetaucht. Diejenigen, die ihre Hausaufgaben vor der Tür des Klassenzimmers auf den letzten Drücker erledigen, brauchen ihr Gekrakel nicht schneller zu Papier zu bringen, und die Gruppe von Handyabhängigen braucht ihren Lebensinhalt nicht eilig in ihren Taschen zu verstauen. Unsere Lehrerin hat nämlich auf dem Weg zu uns bereits mehrmals die Möglichkeit ausgelotet, kreative und humorvolle Beiträge zu Privatgesprächen ihrer Schüler zu leisten. Dabei muss sie sich selbstverständlich keine Sorge um die Privatsphäre ihrer Gesprächspartner machen, weil sie von der tiefen Überzeugung getrieben ist, dass sämtliche Schüler Informationen über ihr Privatleben aufs dringendste mit ihr teilen wollen.
Doch die Handyjunkies haben keinen dauerhaften Freifahrtschein. Unsere Lehrerin arbeitet sich schließlich den Gang entlang. Als sie letztendlich bei uns angekommen ist, moderiert sie schließlich achtungheischend die „Ich-schließe-jetzt-die-Tür-auf-Zeremonie“ ein und wir warten geduldig und mäßig interessiert auf deren Ende. Als die Tür sich dann witzbegleitet öffnet, marschiert die Vollbringerin dieses Werks mit langen Schritten voraus, um ihre Tasche nicht ohne bewundernswerte Eleganz und überragende Lässigkeit auf den Stuhl fallen zu lassen.
Während wir unsere Plätze einnehmen, dreht sie sich in einer schnellen Pirouette zu uns herum und begrüßt uns übermotiviert, während sie gerade ihre Privatgegenstände auf dem Pult drapiert. Unsere (unmotivierte) Erwiderung wird mit laut geäußerter Kritik zur Kenntnis genommen. Dann beginnt sie die Stunde mit einigen detailreichen Ausführungen bezüglich des Unterrichts bei anderen Klassen und deren Schülern. In unübertrefflicher Selbstdramatisierung wird uns der grauenvolle Stundenplan unserer offenbar zutiefst leidenden Lehrerin vorgesetzt.
Daraufhin ergeht sie sich in einem ausführlichen Bericht über (noch nicht) bereiste Urlaubsziele, gefolgt vom üblichen Klatsch und Tratsch aus dem Lehrerzimmer. Während uns gerade ein Rezept komplizierter Limonadenmixtur vorgetragen wird, gibt es erste Meldungen mitteilungsbedürftiger Schüler. Offenbar überrascht von dem Umschwung ihres Monologes in einen Dialog geht unsere Lehrerin auf bewundernswerte Weise individuell auf ihre Schüler ein, indem sie deren Aussagen zur allgemeinen Erheiterung kommentiert und Schüler dadurch nachdrücklich auf ihre Schwächen hinweist.
Diese garantiert pädagogisch sinnvolle Unterhaltung wird die nächsten paar Minuten fortgesetzt und von meinen begierig gaffenden Mitschülern verinnerlicht. Unsere Lehrerin blendet dabei jegliche Versuche ihres Gesprächspartners, Unterrichtsstoff in die Stunde zu integrieren, aus und entscheidet sich, stattdessen uns über unser Wochenende auszufragen. Dabei leistet sie ihren Schülern beeindruckende Beihilfe bei deren Ausführungen, indem sie alle paar Sekunden eigene Beiträge an die Erzählungen ihrer Schüler anfügt. Es gelingt ihr, die Aufmerksamkeit der Klasse nie auf andere Dinge zu lenken als auf sich selbst.
Nachdem einer meiner Mitschüler seinen von ihr „unterstützten“ Beitrag beendet hat, nutzt sie die anschließende Pause, um eine detaillierte Stellungnahme zu eben diesem zu formulieren, bevor sie den nächsten Schüler dran nimmt. Die Prozedur wiederholt sie noch zwei oder drei Mal, bis zum Ende der Stunde.
Wir verlassen den Raum mit gutem Gewissen, denn schließlich liegt unserer Lehrerin unsere Allgemeinbildung sehr am Herzen! Sie legt Wert darauf, dass wir mit wichtigen Fakten vertraut sind, wie der Funktionsweise ihres Thermomix oder der Liedtexte ihres Chors. Gewappnet mit diesem Grundwissen dürfen wir optimistisch in die Zukunft schauen!