Lehrer vorgestellt, Akt 2: „Der Langschläfer“

Wie üblich ist es um 7:45 Uhr vor der Tür unseres Klassenzimmers bereits zu einem Lärmpegel gekommen, dem die Scheiben des Korridors gerade noch standhalten können. Selbstverständlich versuchen sämtliche meiner Mitschüler dieses Problem zu umgehen, indem sie noch lauter zu schreien versuchen als die anderen.

5 Minuten später trudeln nach und nach die Lehrer der Nachbarklassen ein und schließen die Türen ihrer Unterrichtsräume auf. Ein Blick den Gang hinauf und hinunter: Unser Lehrer ist nirgendwo zu sehen. Weitere 5 Minuten später erspähe ich ihn am Ende des Ganges. Gemächlich trabt er den Korridor entlang. Dabei steigt er geduldig über das Minenfeld unserer achtlos über den Gang verteilten Schultaschen hinweg.

An unserer Tür angekommen zückt er seinen Schlüsselbund, stochert im Schlüsselloch der Tür herum, die darauf aufschwingt. Sofort tritt unser Lehrer drei Schritte zurück, um der anstürmenden Meute an Schülern Platz zu machen, die sofort stürmisch unser Klassenzimmer betritt. Nachdem der letzte von uns eben dieses betreten hat, bildet unser (äußerst nach außen hin immunisiert wirkendender) Lehrer das Schlusslicht.

Während wir sämtliche Vorschriften bezüglich Sitzordnung wie gewohnt missachten und uns (weiterhin laut schnatternd) auf unsere persönlichen Lieblingsplätze fallen lassen, verteilt unser Lehrer den Inhalt seiner Tasche großflächig über sein Pult. Darunter befindet sich seine Thermosflasche mit individuellem Lieblingsgetränk, seine extragroße Lunchbox mit einem mehrgängigen Frühstück sowie ein teures Notebook mit angeschlossener Maus samt Mauspad. Schulbücher oder das achtlos bei Seite gelegte Klassenbuch sind für die Methoden unseres Lehrers nicht nötig.

Er dreht sich zur Klasse und leiert ein demotiviertes: „Guten Morgen“ herunter. Unsere Antwort hebt sich nur wenig von dem Restlärm ab. Doch er hat sich bereits umgedreht und nach einem Whiteboard-Marker gegriffen. Stumm kritzelt er eine Liste mit Seitenzahlen und Nummern in eine Ecke. Unser lehrreicher Arbeitsplan für die kommenden 70 Minuten. Der Lehrer setzt sich und klappt seinen innig geliebten Rechner auf. Sein Gesicht verschwindet hinter dem monströsen Bildschirm und wir drücken den Arbeitsanweisungen unseren eigenen Stempel auf.

Ungefähr die Hälfte der Klasse macht sich die Mühe, die Anweisungen zu lesen. Maximal fünf fangen dann auch an zu arbeiten. Die anderen beginnen zu zeichnen oder fallen in einen Wachschlaf. Drei bis vier Schüler tippen bereits seit Beginn der Stunde auf ihren Smartphones herum und spätesten jetzt machen sie sich nicht mehr die Mühe den Sound ihrer Mobile-Shooter herunterzudrehen.

Andere führen Konversationen über eine Distanz von 4 Metern oder laufen in der Klasse hin und her. Die Luft ist bald erfüllt von zerknüllten Hass-Botschaften und Mäppchenutensilien. Der Diebstahl und das anschließende Herumwerfen eines Mäppchens mutiert zu einer Art Volkssport.

Eine halbe Ewigkeit später taucht der Kopf unseres Lehrers auf. Der Lehrer bittet halbherzig um Ruhe. Er wird von ungefähr drei von uns wahrgenommen. Sein leicht vernebelt wirkender Blick gleitet langsam von links nach rechts. Dann taucht sein Kopf wieder ab. Unbeeindruckt vom allgemeinen Lärm dreht der Minutenzeiger der Uhr über der Tür seine Runden.

Die große Pause kommt schneller als erwartet. Der Gong wird sofort als Zeichen verstanden, sämtliche Freizeitaktivitäten auf den Schulhof zu verlegen, und so quetschen wir uns nach 75 Minuten Unterricht wieder auf den Gang, in denen die meisten von uns nicht einmal an den Unterrichtsstoff gedacht, geschweige denn ihn gelernt haben. Aber wir können uns mit dem Wissen beruhigen, dass wir die Klassenarbeiten immer sehr einfach finden. Das kann ja nur an unserem engagiertem Lehrer und seinen raffinierten Methoden liegen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert