Lehrer vorgestellt, Akt 3: „Unterricht nach modernem Lehrplan“

Unsere Lehrerin kämpft sich wie immer auf die Sekunde genau um 7:50 zu unserem Klassenraum durch. Pünktlichkeit ist schließlich eines ihrer Hauptmerkmale. Mit ernstem, aber keinesfalls einschüchterndem Gesichtsausdruck schließt sie den Raum auf. Dann marschiert sie mit langen Schritten vorweg, ohne dabei an überwältigender Autorität oder Ausstrahlung zu verlieren. Danach drapiert sie ihre Tasche punktgenau an der linken Seite ihres Tisches und positioniert das Klassenbuch auf dessen Mitte.

Danach stellt sie sich schnurgerade hinter ihren Stuhl und beschenkt uns mit einem motivierenden, aber nicht allzu optimistischem Lächeln. Sekunden vergehen… Dann endlich sickert der Zweck ihres Vorgehens in unsere Hirne durch. Unter allgemeinem Gestöhne schieben wir unsere Stühle zurück und erheben uns. Doch anstatt die Begrüßung zu vollziehen, weist sie nacheinander circa die Hälfte meiner Mitschüler darauf hin, dass diese noch kein Material ausgepackt haben. Diese setzen sich also wieder und kramen unter dem geduldigen Lächeln unserer Lehrerin ihre Bücher hervor.

Nachdem auch dieses langwierige Prozedere abgeschlossen ist, lächelt sie jedem von uns auf äußerst motivierende Art ins Gesicht und trällert ein „Guten Morgen!“ heraus. Unbeeindruckt erwidern wir diese Geste und lassen uns auf unsere Plätze fallen. Jedoch nicht für lange: Unsere Lehrerin besitzt schließlich überwältigende Kenntnisse im Bereich der Pädagogik. Sie kennt unsere Arbeitsweise, unsere Schwierigkeiten, unsere Probleme ganz genau – ohne jemals mit ihren Schülern darüber gesprochen zu haben! Denn ihr wurde all das bereits in ihrer Ausbildung sorgfältig beigebracht!

Einziger Nachteil: Sie ist natürlich davon überzeugt, dass unsere Sitzordnung, die sich bei anderen Lehrern seit Jahren bewährt hat, ihren Anforderungen nicht genügt. Zu Beginn ihrer ersten Stunde bei uns hat sie innerhalb weniger Minuten einen komplett neuen Sitzplan entworfen, den sie jetzt konsequent umsetzt. Also werden wir erneut aufgefordert aufzustehen und wir nehmen lautstark die uns zugewiesenen Plätze ein, was wieder einige Zeit in Anspruch nimmt. Mittlerweile ist bereits die Hälfte der Stunde vergangen.

Doch nun beginnt unser von ihr sorgfältig durchgeplanter Unterricht: Sie zählt laut die Schüler ab und jedem wird so eine Zahl zugeteilt. Dann werden Arbeitsblätter mit Texten verteilt, wobei darauf geachtet wird, dass Schüler mit geraden Zahlen ein anderes Blatt erhalten als Schüler mit ungeraden. Ferner wird das Blatt derjenigen, deren Zahl durch 7 teilbar ist, eingesammelt und durch noch ein anderes ersetzt. Dann schreibt unsere Lehrerin die Aufgaben an die Tafel:

  1. Lese deinen Text
  2. Markiere deine Lieblingsstelle in deiner Lieblingsfarbe
  3. Markiere den restlichen Text in derselben Farbe
  4. Gebe das Blatt an deinen linken Sitznachbarn
  5. Zerschneide das Blatt in möglichst kleine Schnipsel
  6. Klebe die Schnipsel beliebig wieder zusammen
  7. Lese deinen Text erneut
  8. Hol dir das Lösungsblatt bei deiner Lehrerin ab

Nachdem wir mit diesen produktiven Aufgaben einige Zeit beschäftigt waren, fragt sie uns nach unserer Meinung zu unserem Text. Offenbar hat sie sich im Vorfeld einige Gedanken zu möglichen Antworten ihrer Schüler auf diese Frage gemacht. Da ist es nur logisch, dass sie ihre Meinungsumfrage insofern beschränkt, dass sie Standpunkte, die sie nicht bedacht hat, mit den Worten: „Ähm, jahh, da kommen wir später drauf zurück“ abwürgt. Dann jedoch lässt sie einzelne Schüler ihre Ergebnisse vortragen. Jedes Mal, wenn sie dabei auf jemanden stößt, dessen Lösung nicht mit ihrem Lösungsblatt übereinstimmt, teilt sie ihm seinen Fehler auf charmante Art mit den Worten „Das war ja schon ziemlich gut, kann noch jemand was ergänzen?“ mit.

Vom Ende der Stunde wird sie als Herrin der Pünktlichkeit total überrascht. Doch sie entlässt uns auf die Sekunde genau pünktlich in die Pause. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir Lehrer haben, die uns mit kreativen Aufgabenformaten vor dem Albtraum eines gewöhnlichen Frontallunterrichts bewahren!

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